Mittwoch, 28. Juli 2010

Sonntagnachmittag in Thiruvanmiyur

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Madras/Thiruvanmiyur. Eigentlich wollten wir nur ein japanisches Restaurant besuchen, doch dann verbrachten wir einen ganzen Nachmittag in Thiruvanmiyur, einem Stadtteil von Madras, der etwas von einem verträumten indischen Dorf hat.

Das Akasaka Restaurant soll hinter der Jayanthi Cinema Hall liegen, da könnten wir einen Film ansehen und dann Essen gehen. In Madras laufen auch internationale Filme, derzeit zum Beispiel Inception, mit Leonardo DiCaprio. Aber als wir beim Kino ankommen, startet gerade ein Schmachtfetzen in Tamilischer Sprache und das Restaurant ist auch noch nicht offen. Also beschließen wir, erstmal den nahen Strand zu besuchen.

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Da drüben muss es sein, eine kleinere Straße, die von der Hauptstraße abzweigt und nach Stadtplan schnurgerade zum Meer führt. Dem hektischen Verkehrstreiben entkommen, finden wir uns wieder in einer von einem Blätterdach Sonnen geschützten Allee, die in eine Art Dorfstraße übergeht, an der kleine ein- bis zweistöckige Häuser stehen. Manche von ihnen sind neu verputzt in bunten Farben, andere sehr mitgenommen vom aggressiven Tropenklima. Fast in jedem zweiten Haus ist ein kleiner Laden oder ein Handwerkerbetrieb untergebracht.

Auf fünf Quadratmetern hat der Barbier seinen Laden eröffnet. Bei offener Tür seift er einen Kunden ein. Die gleiche Größe hat ein Fahrrad-Reparaturbetrieb. Allerdings türmen sich hier die Radl vor der Tür und eine junge Frau ist dabei, einen Reifen zu reparieren. Ein wenig ungeschickt hat sie den Schlauch nicht vom Rad abgetrennt, sondern nur gelockert, und versucht, die lecke Stelle mit Hilfe einer Schüssel Wasser zu finden. Dagegen sind ein paar Mini-Supermärkte geschlossen, in deren Schaufenster Unmengen von Hautreinigungsmitteln  und Sonnenschutzcremes stehen. "White Beauty" heißen die Produkte, oder "Makes your skin lighter" und "Prevents darkening" steht auf den Flaschen und Tiegeln. Von "Black is Beautiful" keine Spur. Jeder möchte hier weißer aussehen als der Nachbar, zur Not begibt er oder sie sich in einen der zahlreichen Beauty-Salons. Dort werden auch chemische Behandlungen angeboten, die die Haut heller machen sollen.

Kühe und Krähen als Gesundheitspolizei

Während die Schönheitssalons ebenfalls geschlossen haben, wird in der Fischmarkthalle sorgfältig geschrubbt. Markt ist hier meist in den kühlen Abendstunden. Trotzdem riecht es heftig nach Fisch, was die immer präsenten Krähen anlockt, die sich bei den Mülltonnen an den Fischköpfen gütlich tun. Gut genährte Kühe „grasen“ den Grund rund um die Tonnen ab, wo sie Essensreste aus den Abfällen herauszerren.

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Am Sonntag wird auch sonst überall gefegt, gewienert und gewaschen. An der örtlichen Wasserstelle bedienen sich Frauen, die nicht das Glück haben, zu Hause über fließendes Wasser zu verfügen. Die traditionellen Kübel aus Ton oder Metall sind allerorts durch leichte Plastikversionen ersetzt worden. Knallbunte bauchige Vasen, die dieselbe Form haben, wie die alten Behälter. Aufgereiht in Gruppen sehen sie sogar sehr hübsch aus und Künstler verwenden sie bereits als Gestaltungselemente.

Hinter einem werbewirksam aufgemotzten Shop für IT-Bedarf sitzt eine alte Frau auf ihrem Wiesengrundstück neben ihrer Hütte und schrubbt Töpfe.
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Das Unterteil ihres Saris hat sie geschickt um ihre Beine gewickelt, damit es nicht nass wird. Die männlichen Bewohner sind offensichtlich ausgeflogen. Vielleicht gönnen sie sich ein Kingfisher Bier oder einen Flachmann indischen Old Monk Rums in einem der "Tasmac-Shops". Alkohol darf in Tamil Nadu nur dort verkauft werden oder in Hotels, die mindestens 20 Betten haben. Witzig: Es gibt ein Hotel, dass sich "Twenty Bedrooms" nennt . Dort gibt es tatsächlich 20 Zimmer, aber so winzig klein, dass man eigentlich nicht drin wohnen kann.


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Vier Häuser weiter wieder eine Hütte mit Palmdach, vor der die Hausfrau auf einer Feuerstelle das Essen zubereitet. Die Enkelin kämmt nebenan der Oma das lange Haar, das dank Behandlung mit schwarzer Henna-Farbe noch keine Strähne Grau zeigt. Das gegenseitige Pflegen der Haare hat eine lange Tradition und ist nicht nur praktisch, sondern ein wichtiges Zeichen der Zuneigung. Einen Zopf flechten, Kokosöl für den Glanz hinein reiben und einen Strang mit Jasminblüten hineinstecken, fertig ist die hübsche Alltagsfrisur.

Alles, was laufen kann, scheint in den späten Nachmittagsstunden auf der Straße zu sein. Auf dem kleinen Marktplatz werden die letzen Mangos der Saison und kleine, aromatische Bananen verkauft. Der Namensteil Thiru-  weist darauf hin, dass sich in einem Ort ein größerer Tempel befindet. In Thiruvanmiyur soll er sogar über 1000 Jahre alt sein, sagt man. Dort hat sich eine Prozession mit Frauen gebildet, die, Metallvasen mit Opfergaben auf dem Kopf, eilig voranschreiten, während Männer mit altertümlichen Instrumenten den musikalischen Teil bestreiten. In der Mitte sitzt auf einer Sänfte eine Götterfigur, die unter dicken Blumengirlanden fast nicht zu erkennen ist. (Unser Fahrer Pandy hat dazu später erklärt: "Da nicht alle zum Gott in den Tempel kommen können, kommt der Gott eben manchmal zu den Menschen seines Viertels.")

Ganz entspannt im Labyrinth

Bald erreichen wir den Strand, wo hier und da ein paar schlanke Fischerboote herumliegen. Die Männer sitzen im Sand und spielen Karten und werden dabei heftig gestikulierend von Zuschauern unterstützt. Schwimmer haben wir hier und auch an den übrigen Stränden des Golfs von Bengalen eher selten gesehen. Viele der Küstenbewohner können gar nicht schwimmen und das Sonnenbaden ist sowieso verpönt, da man ja nicht dunkler werden möchte und sich in der Öffentlichkeit nicht entblöst.

Zurück zum Restaurant haben wir uns heillos verirrt. Das Straßennetz besteht hier aus vielen horizontalen Straßen und als wir endlich eine vertikale erwischen, sind wir schon viel zu weit nach Osten gegangen. Aber wenn man sich erst mal richtig verlaufen hat, beginnt man das Ganze indisch zu betrachten. Entspannt ganz im Hier und Jetzt leben und genießen, was einem auf dem Weg begegnet.

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Hübsche Gärten haben wir gesehen, in denen auf Leinen einsam im Wind wehende Wäschestücke hängen, erschöpfte Bauarbeiter, die auf einem Haufen Sand eingeschlafen sind, Vater und Sohn, die eifrig ein Buch studieren, einen Möbelschnitzer, der herrlich ziselierte Schaukelstühle aus dunklem Tropenholz anfertigt, kleinere Tempel mit bunten Ganesh-Figuren, dem elefantenköpfigen Gott, der auf einer Ratte reitet.


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Weißbekleidete Priester drehen dort ihre CD-Player lauter, damit die heiligen Gesänge von überall her zu hören sind. Und dann haben wir - pünktlich um Viertel vor Sieben, als der Muezzin von der nahen Moschee ruft - wie durch ein Wunder unseren Japaner wieder gefunden und herrlichen Fisch gegessen - indisch-japanisch zubereitet.

Text: Senya Müller  
Fotos: Senya Müller (1), Daniel Stern (6)
Redaktion: Daniel Stern